"Ihr müsst auch heute offene Augen haben!"

Eine Jude berichtet von seiner Gefangenschaft im Arbeitslager in Lichtenrade

In Kooperation mit der Initiative Stolperstein wurde Dr. Ernst Neugroschl in das Evangelisches Gemeindehaus nach Lichtenrade eingeladen. Ernst Neugroschl befand sich über vier Monate im Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Lichtenrade. Die Veranstaltung fand am Vorabend der Verlegung von 33 Stolpersteinen im März 2007 in Lichtenrade statt.

Die Geschichtswerkstatt Lichtenrade hat im Rahmen des 60. Jahrestages der Befreiung von Sachsenhausen Kontakt zu Dr. Neugroschl bekommen.

Neugroschl ist Jude und lebt heute in den USA. Sein Weg führte ihn über Österreich und Israel. Der 80jährige berichtet von der totalen Vernichtung der Juden in Europa und von der Geschichte seiner orthodoxen Familie. Seine Familie lebte in der Slowakei in Pressburg (Bratislava), wo in einer antisemitischen Atmosphäre zirka 50.000 Juden wohnten.

Neugroschl macht das Ausmaß der Vernichtung in Europa deutlich: „Es sind täglich 6.000 Juden vernichtet worden!“ Der Vater arbeitete seit 1940 in einem großen Sägewerk und gehörte somit für die Nazis zu den „wirtschaftlich wichtigen Juden.“ Diese Tatsache rettete die Familie vermutlich vor einer frühzeitigen Deputation. Die Deputationen begannen 1942, weiß Neugroschl zu berichten.

Dr. Ernst Neugroschl

1944 musste dann die Familie fliehen und wurde getrennt. Der jugendliche Ernst Neugroschl konnte einer Kontrolle dadurch entgehen, dass er slowakisch sprach. Wenn er deutsch gesprochen hätte, wäre es sein sicherer Tod gewesen, da er so als Jude erkannt worden wäre.

Er fand seine Eltern im Wald wieder. Sie wurden von einem evangelischen Pfarrer unterstützt und bei einem Bauern aufgenommen. Dann wurden sie aber verraten.

Die SS kam in der Nacht und pferchten Vater und Sohn in einen Güterwaggon mit Ziel Sachsenhausen. Die Mutter wurde nach Bergen-Belsen deportiert. An den Gestank im Waggon kann sich Neugroschl noch erinnern; zirka 50 Menschen waren wie Vieh fünf Tage zusammen.

Nach der Fahrt waren in ihrem Waggon fünf Tote zu verzeichnen. Eine Woche nach der Ankunft wurden Vater und Sohn zu einem 1943 begründeten Außenarbeitslager in Lichtenrade transportiert. Hier waren ständig 2.000 Gefangene untergebracht. Kranke und Tode wurden ständig mit neuen Gefangenen ersetzt. Vom Lager, heute in Höhe vom Bornhagenweg, wurden sie in Lastwagen nach Berlin als Trümmerräumungskommando 63 gebracht. Nach Angriffen der Alliierten musste der zirka 15 jährige Neugroschl mit der Gefangenennummer 181.592 die Straßen wieder freiräumen. Nach einer Flucht eines Mitgefangenen wurden sechs Gefangene zur Abschreckung vor den Augen aller aufgehängt.

Die Gefangenen wurden später von pensionierten Polizisten bewacht. Hier konnte der Jugendliche auch erfahren, dass ihm ein Polizist mit Nahrung, Nadel und Zwirn versorgte.

Im Lager mussten sich täglich 6 Gefangene ein Laib Brot teilen. Ansonsten gab es zweimal täglich meist Rübensuppe. Im März wurde das Lager Lichtenrade aufgelöst. Vater und Sohn waren eine Zeit getrennt, haben sich in Sachsenhausen aber wieder getroffen. Sie haben sich vor dem Todesmarsch in Richtung Ostsee versteckt, obwohl Brot und Fleisch, damals einzigartig, angeboten wurden. Die SS war eines Tages verschwunden. Der Vater achtete aus gesundheitlichen Gründen jetzt besonders auf eine zurückhaltende Ernährung des Jugendlichen. Vater und Sohn machten sich nach fast fünf Monaten auf den Weg in die Heimat. Dabei erlebten sie auch, dass ein russischer Soldat den Gefangenen Butter direkt von einem LKW gab. Auch die Mutter überlebte nach schwerer Krankheit Bergen-Belsen.

Die Arbeitslager waren letztlich auch Vernichtungslager! Die Nazis nutzten die Arbeitskraft bis zur Erschöpfung und Tod der Menschen. Dr. Neugroschl berichtet vom missglückten Attentat von Graf von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944, wo die Niederlage schon absehbar war. Er fragt verzweifelt: „Wo waren sie alle 1943, 1942, 1941, 1940?“.

Neugroschl appelliert an die Anwesenden: „Ihr müsst auch heute offene Augen haben! Die Polizei kann nicht alle jüdischen Einrichtungen bewachen.“

Ernst Neugroschl konnte auch den Schülern der Gustav-Heinemann-Oberschule und des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums von seinen Erfahrungen berichten.

Stolperstein in Lichtenrade

Im März 2007 wird Menschen, vorwiegend jüdischen Glaubens, mit den „Stolpersteinen“ gedacht. Sie sind von den Nazis verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Diese Menschen lebten in Lichtenrade. Die Stolpersteine sind Messingtafeln mit den Namen der Opfer, die vor den Hauseingängen auf dem Bürgersteig verlegt werden.

Die 33 Stolpersteine wurden an 13 Stellen ins Pflaster eingepasst.

 

Künstler, Bildhauer und Vater des Gedankens der Stolpersteine Gunter Demnig

In der Beethovenstraße 29 wurden zum Beispiel vier Steine für Familie Braun und für Clara Feininger eingebracht. Bei dieser Verlegung nahmen Angehörige der Familie Braun teil.

Die Steinverlegungen besuchten Schüler der Nahariya-Grundschule, der Theodor-Haubach-Oberschule und dem Ulrich-Hutten-Gymnasium. Es wurden Patenschaften, aber auch Kosten für Steine, übernommen.

Festakt zur Verlegung der Stolpersteine

Der Festakt fand im würdigen Rahmen im Gemeinschaftshaus Lichtenrade statt. Das Orchester Lichtenrade spielte Werke von Anton Bruckner und Felix Mendelssohn-Bartholdy und der Schulchor des Georg-Büchner-Gymnasiums sang. Pfarrer Kraft (in Ruhestand) führte durch die Veranstaltung „Ich kann nicht fassen, welche Barbarei in unserer Mitte möglich war!“.

Pfr.Kraft, das Orchester Lichtenrade und der Chor des Georg-Büchner-Gymnasiums

In der Initiative Stolpersteine gab es eine schöne Zusammenarbeit von evangelischer und katholischer Kirche, mit Kommunalpolitikern, dem Kunstamt Tempelhof-Schöneberg und besonders mit der Geschichtswerkstatt Lichtenrade, erläutert Kraft.

Der Schirmherr Dieter Hapel, stellvertretender Bürgermeister und Kulturstadtrat, begrüßte die Gäste und freut sich über das bürgerschaftliche Engagement.

Dr. Ernst Neugroschl berichtet auch in diesem Rahmen über seine Geschichte, die Geschichte der Familie und der Juden.

Der politische Künstler, Bildhauer und Vater des Gedankens der Stolpersteine Gunter Demnig sprach von einem Geschenk der Bürger an die Kommune. Es wurden bereits über 11.000 Steine in Deutschland verlegt; auch in Österreich und Ungarn findet diese Initiative langsam Anklang.

Ganz zum Abschluss sang Isaac Sheffer, Kantor der Jüdischen Gemeinde Berlin, das Kaddisch, die jüdische Totenklage, nachdem Reinhart Kraft feierlich die Namen aller Ermordeten verlesen hatte.

Thomas Moser - BerLi-Press (auch Fotos) für www.lichtenrade-berlin.de


 

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